Der Begriff “Arisierung” hatte sich als rassisch determinierter Neologismus (1) seit
Mitte der dreißiger Jahre in der deutschen Behördensprache durchgesetzt. In dieser
Zeit entstand auch die rassistisch motivierte Wortschöpfung “Entjudung”.
Interessanterweise findet sich jedoch in keinem der Erlasse, Verordnungen und
Gesetze aus dieser Zeit eine offizielle Definition der Begriffe. (2) Die Zuschreibung
“jüdisches Unternehmen” und “Jude” erfolgte auf Grundlage der
nationalsozialistischen Rassenlehre. So waren auch Personen von “Arisierungen”
betroffen, die zum Christentum konvertiert waren oder sich selbst subjektiv gar nicht
als “Juden” begriffen.
Unter “Arisierung” versteht man den “nationalsozialistischen Begriff für den Prozess
der Entfernung der deutschen Juden aus dem Wirtschafts- und Berufsleben. Die
Arisierung umfasste sowohl die Enteignung jüdischen Besitzes und Vermögens
zugunsten von Nichtjuden (“Ariern”) als auch die Einschränkung jüdischer
Erwerbstätigkeit und den direkten Zugriff auf jüdische Vermögen.”(3) Oft waren die
lokalen “Arisierungen” den reichsweiten Erlassen voraus - in vorauseilendem
Gehorsam wurden zum Beispiel schon viel früher im kommunalen Bereich keine
öffentlichen Aufträge mehr an jüdische Firmen vergeben, als dies per Runderlass am
1.3.1938 gefordert wurde.
Die “Arisierungen” in Deutschland verlaufen in drei Phasen.
Die erste Phase bis etwa Ende 1937 ist gekennzeichnet durch eine schleichende
Verdrängung jüdischer Betriebe und Einzelhandelsgeschäfte, ohne dass dafür eine
direkte rechtliche Grundlage besteht. Unter dem Druck der Verhältnisse
(Boykottaufrufe, lokale Schikanen durch NSDAP-Funktionäre u.ä.) werden zumeist
kleinere und mittelgroße jüdische Unternehmen und Einzelhandelsgeschäfte vor allem
in den Kleinstädten und auf dem Lande in den Ruin getrieben oder zu Verkäufen unter
Wert genötigt. (4)
Mit einer Vielzahl von Willkürmaßnahmen bedrängten die Nationalsozialisten in
dieser Phase bereits seit 1933 Juden in bestimmten Berufsgruppen. Nach und nach
wurden Juden an der Ausübung ihrer Berufe gehindert (z.B.: Entfernung jüdischer
Ärzte, Professoren und Lehrer aus dem Staatsdienst am 21. Dezember 1935 und
Zulassungsverbot für jüdische Steuerberater am 11. Januar 1936). (5)
Auch verschiedene Angaben zu bestimmten Berufsgruppen oder Geschäftstypen
belegen, wie weit 1938 bereits die “freiwillige Arisierung” der deutschen Wirtschaft
fortgeschritten war. Von den etwa 50.000 jüdischen Einzelhandelsgeschäften, die
Ende 1932 gezählt wurden, waren im Juli 1938 nur noch etwa 9.000 in jüdischem
Besitz. Von den rund 8.000 jüdischen Ärzten praktizierten nur noch knapp 3.000, die
zumeist jüdische Patienten behandelten. Von ehemals 4.500 jüdischen Juristen übten
noch 1.753 ihren Beruf aus. (6)
Nach Schätzungen des Historikers Avraham Barkai gab es 1932 etwa 100.000
jüdische Betriebe in Deutschland. Das Reichswirtschaftsministerium nannte im April
1938 die Zahl von noch etwa 40.000 existierenden jüdischen Geschäften. (7) Das
bedeutet, dass zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als die Hälfte aller jüdischen Geschäftsleute
in irgendeiner Form aufgegeben hatte oder aufgeben musste.
Erst die “Entjudung” großer und bekannter jüdischer Unternehmen und Bankhäuser
zwischen Ende 1937 und Mitte 1939 wurde intensiver von der Öffentlichkeit
wahrgenommen. (8) Ab der Jahreswende 1937/38 wurden die “Arisierungen” von
staatlicher Seite durch Gesetze und Verordnungen systematisiert. Hier beginnt die
zweite Phase des Prozesses der “Arisierung”(9)
Ab November 1938 beginnt dann die dritte Phase, die Durchführung von
Zwangsarisierungen. Juden werden per Gesetz zum Verkauf ihrer Unternehmen
gezwungen. (10) Hermann Göring, als Beauftragter für den Vierjahresplan, erlässt am 12.
November 1938 die “1. VO zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben”.
Juden wird ab 1. Januar 1939 der Betrieb von Einzelhandels-,
Versandgeschäften oder Bestellkontoren sowie der selbständige Betrieb eines
Handwerks untersagt. (11) Am 23. November 1938 erlässt das
Reichswirtschaftsministerium eine entsprechende Durchführungsverordnung. (12) In
einer geheimen Anordnung bezeichnet Hermann Göring am 10. Dezember 1938 die
“Arisierung” jüdischer Gewerbebetriebe als eine Aufgabe des Staates. Die Gewinne
stünden allein dem Deutschen Reich zu, nicht privaten Antragstellern. (13) Das Reich ist
der (finanzielle) Hauptprofiteur der Arisierungen. (14)
Von den verbliebenen 39.532 jüdischen Betrieben (Stand: 1. April 1938) waren im
April 1939 bereits 14.803 “arisiert” und 5.976 liquidiert. (15)
Durch den Ausbruch des Krieges im September 1939, durch weitere Beschränkungen
für Juden sowie die wenig später einsetzenden ersten Deportationen wurde jüdisches
Wirtschaftsleben in Deutschland praktisch völlig ausgelöscht. Den Abschluss der
“Arisierungen” bildeten die 11. und 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz
(November 1941 und Juli 1943), nach denen das gesamte Vermögen der nach Osten
deportierten beziehungsweise der zu Tode gekommenen Juden dem Reich verfiel.(16)
Die Geschichte des Kaufhauses Kychenthal in Schwerin zeigt exemplarisch,
wie eine seit Jahrzehnten angesehene jüdische Kaufmannsfamilie aus dem
Wirtschaftsleben ihrer mecklenburgischen Heimatstadt gedrängt worden ist.
Text: Matthias Baerens
Quellen / Anmerkungen:
(1) Gemeint ist damit eine politisch motivierte Wortschöpfung der Nazis. Aus
diesem Grund erscheint der Begriff “Arisierung” in dieser Arbeit bewußt in
Anführungszeichen.
(2) Vgl. Frank Bajohr: “Arisierung” in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen
Unternehmer 1933-1945. Hamburg 1997. S. 9. Bajohrs Buch als Fallstudie für
Hamburg eignet sich sehr gut als Hintergrundwerk zur “Arisierung” allgemein.
(3) Wolfgang Benz, Hermann Graml und Hermann Weiß: Enzyklopädie des
Nationalsozialismus. München. 2. Auflage 1998. S. 374.
(4) Vgl. Wolfgang Benz u.a.: Enzyklopädie des Nationalsozialismus. S. 374.
(5) Vgl. Martin Broszalt und Norbert Frei (Hrsg.): Das Dritte Reich im Überblick...
S. 233.
(6) Vgl. Avraham Barkai: Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten
Reich (1933-1938). In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Band 31. 1986. S. 40.
(7) Vgl. ebenda. S. 40f.
(8) Vgl. Avraham Barkai: Vom Boykott zur “Entjudung”. Der wirtschaftliche
Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933-1943. Frankfurt/M. 1987. S. 140.
Mehrere Fallbeispiele von “Arisierungen” bekannter jüdischer Unternehmen
beschreibt Johannes Ludwig: Boy kott, Enteignung, Mord. Die “Entjudung” der
deutschen Wirtschaft. Hamburg, München 1989.
(9) Vgl. Wolfgang Benz u.a.: Enzyklopädie des Nationalsozialismus. S. 374.
(10) Vgl. Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Band 1.
Frankfurt/M. 1990. (durchgesehene und erweiterte Auflage) S. 98.
(11) Vgl. Joseph Walk: Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine
Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien - Inhalt und Bedeutung.
2. Auflage. Heidelberg 1996. S. 254. Als Quelle nennt Walk: Reichsgesetzblatt
(RGBl I, S. 1580). Das Buch enthält eine Auflistung von 1973 speziellen
Gesetzen, Vorschriften u.ä., durch die Juden von 1933 bis 1945 in Deutschland
schikaniert wurden.
(12) Vgl. ebenda. S. 258. Als Quelle nennt Walk: RGBl I, S. 1642.
(13) Vgl. ebenda. S. 265 Als Quelle nennt Walk: Der Prozeß gegen die
Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg 14.
November 1945 bis 1. Oktober 1946. Nürnberg 1947/48. XXVII, S. 68 und XXVIII,
S. 63.
(14) Vgl. Peter Hayes: Big Business and “Aryanization” in Germany, 1933-1939. In:
Jahrbuch für Antisemitismusforschung. Nr. 3. 1994. S. 272.
(15) Vgl. Broszalt, Martin und Norbert Frei (Hrsg.): Das Dritte Reich im Überblick...
S. 251.